Der Weg ins Vertrauen
Du hast eine ängstliche Katze aus dem Tierheim oder einer ausländischen Tötungsstation adoptiert? Das ist ganz wundervoll und großartig von dir, dass du ihr eine Chance auf ein glückliches Leben gibst!
Im folgenden Artikel findest du ein paar Tipps aus meiner eigenen Erfahrung und der Erfahrung anderer Adoptanten, wie du sie beruhigen und ihr zeigen kannst, dass sie keine Angst haben muss. Gleichzeitig möchte ich dir aber auch helfen zu verstehen, was in deiner ängstlichen Katze vorgeht. Und so widmen wir uns zunächst der Frage:
Was ist Stress?
Einfach gesagt ist Stress die körperliche und seelische Antwort eines Lebewesens auf bestimmte Erfahrungen, Erlebnisse und Situationen.
Auf körperlicher Ebene laufen dabei verschiedene Reaktionen ab. Es werden die Hormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol ausgeschüttet. Sie sorgen dafür, dass sich Atmung und Herzschlag beschleunigen, die Pupillen erweitern, die Muskeln anspannen und der Blutdruck steigt. Gleichzeitig werden diejenigen Aktivitäten des Körpers gehemmt, die nicht unmittelbar überlebenswichtig sind, sodass die Energie auf das Wesentliche konzentriert werden kann.
Stressreaktionen sind also nicht nur natürlich, sondern sogar lebenswichtig. Gefährlich wird es erst, wenn sich ein Lebewesen im Dauerstress befindet und sich der Körper nicht mehr erholen kann.
Um den Stress bewältigen zu können, gibt es verschiedene Möglichkeiten, sogenannte Copingstrategien:
- Veränderung der Situation
- Veränderung der Gedanken und Gefühle
- Strategien zum Abbau von Spannungen (z.B. Hecheln, Übersprungshandlungen)
Zusammenhang von Angst und Stress
Die gleichen Reaktionen laufen auch bei Angst ab. Ist die Ursache für Stress dann immer Angst? Nein. Schmerzen, Krankheit, Hunger, Durst oder wenn sich das Leben einschneidend verändert, können ebenso zu Stress führen. Grundsätzlich kann jede Situation Stress auslösen, wenn das Tier nicht weiß, wie es die Herausforderungen bewältigen soll. Aber es besteht ein Zusammenhang zwischen Angst und Stress. Angst kann zu Stress führen und Stress kann Angst machen oder sogar Angststörungen verursachen.
Teufelskreis Tötungsstation
Katzen, die in einer Tötungsstation gelandet sind, waren bis zu diesem Zeitpunkt schon massivem Stress ausgesetzt.
Manche wurden von ihrer Familie dort abgegeben, das heißt sie haben ihr Zuhause, ihre gewohnte Umgebung, ihren gewohnten Alltag und ihre Bezugsmenschen verloren. Dies ist ein Stress, unter dem auch Katzen in einem deutschen Tierheim leiden.
Jeder, der schon einmal mit seiner Katze umgezogen ist, weiß, wie sehr sich Katzen alleine mit einer räumlichen Veränderung plagen.
Viele andere Katzen sind Streuner, die auf der Straße ums Überleben kämpfen mussten, bevor sie von Tierfängern eingefangen und aus ihrem Revier, ihrem sozialen Verbund mit Artgenossen herausgerissen wurden und von der Freiheit in Gefangenschaft kamen. In so einer Tötungsstation kommen noch mehr Stress auslösende Faktoren hinzu wie Kälte, Lärm, Hunger, fehlende Rückzugsmöglichkeiten und auch die Angst der anderen Tiere.
Da in der Tötungsstation und auch im Tierheim eine Veränderung der Situation nicht möglich ist, müssen die Katzen also ihre Gedanken und Gefühle verändern oder Strategien zum Stressabbau für sich finden. Wie bei den Menschen gibt es auch bei Katzen ganz unterschiedliche Charaktere, die ganz unterschiedlich mit Herausforderungen umgehen.
Wenn eine Katze bisher Stress vermieden hat, indem sie sich der Situation entzogen hat, wird ihr in der Tötung ihre Copingstrategie genommen. Es kommt also zu Dauerstress, der wiederum Angst auslösen oder steigern kann. Angst wiederum führt zu noch mehr Stress… usw.
Auch in einem Tierheim in Deutschland können Katzen unter Stress leiden, wenn auch nicht so massiv wie in einer ausländischen Tötungsstation, die für sie eine existenzielle Bedrohung darstellt.
Reisestress und Copingstrategie
Hat eine Katze nun das ganz große Los gezogen und ihr für immer Zuhause gefunden, dann weiß sie das in aller Regel nicht, wenn sie erneut in eine Transportbox gepackt wird und ihre lange Reise antritt. Bei Conley, der ja aus Minsk zu mir kam, dauerte die Reise eine Woche und ca. 2000km mit dem Auto.
Als er endlich bei mir ankam, hüpfte er mir nicht freudig und dankbar in die Arme, sondern er griff auf seine alte Copingstrategie zurück, die ihm solange verwehrt geblieben war. Er versteckte sich. Lange. Sehr lange. Wochen, Monate. Wenn ich ihm zu nahe kam, fauchte er.
Ich erinnere mich, dass ich viele Stunden bei ihm im Quarantäne-Zimmer verbrachte. In gebührendem Abstand versteht sich lag ich auf dem Boden, spielte ihm beruhigende Musik vor, redete mit ihm und flehte ihn an, mir und uns eine Chance zu geben.
Wie lange dauert die Eingewöhnung?
Das ist eine Frage, auf die es keine pauschale Antwort gibt. Nicht einmal eine annähernd zuverlässige Aussage lässt sich treffen. Der Weg ins Vertrauen ist sehr individuell, auch was seine Länge betrifft. Die Zeitspanne reicht von wenigen Tagen, über mehrere Wochen, viele Monate, Jahre bis hin zu ein ganzes Katzenleben.
Auch bei Conley glaubte ich zwischenzeitlich, ich müsse einfach damit glücklich sein, ihn gerettet zu haben und ihm ein warmes Zuhause in Sicherheit und mit genügend Futter zu bieten. Ja, zwischenzeitlich fand ich mich schweren Herzens damit ab, dass ich niemals erfahren würde, wie sich sein Fell anfühlt.
Und damit wären wir schon bei den beiden wichtigsten Zutaten für das Zusammenleben mit einer ängstlichen Katze:
Geduld und Liebe
Das bestätigten mir auch alle, die eine als ängstlich beschriebene Katze adoptiert haben. Geduld und Liebe. Selbstlos und bedingungslos.
Katzen sind sehr feinfühlige Wesen. Sie können unsere Absichten spüren. Deshalb ist es wichtig, dass du authentisch bist, Ruhe ausstrahlst und ohne Erwartungen Zeit mit ihr verbringst. Auch wenn sie sich vielleicht so gut versteckt hat, dass du sie gar nicht sehen kannst. Conley zog zum Beispiel nach einiger Zeit in unseren Kachelofen im Wohnzimmer, wo ihn niemand finden konnte, wenn er nicht zufällig aus dem Lüftungsfenster schaute.
Der Kachelofen wurde für Conley zu einem wichtigen Rückzugsort, nachdem er nicht mehr in Quarantäne bleiben musste. Einen solchen Rückzugsort brauchen alle Katzen und ängstliche ganz besonders. Vielleicht hast du die Möglichkeit, deiner ängstlichen Katze ihren eigenen kleinen Bereich einzurichten, in dem du eigens nur für sie Futter, Klo, Kratzbaum und Bettchen bereitstellst.
Hier kannst du dann in aller Ruhe Zeit mit ihr verbringen.
Eine gute Methode, die vielen Adoptanten hilft, ist, der Katze vorzulesen. So kann sie sich an deinen Geruch und deine Stimme gewöhnen. Nebenbei hat sie aber auch die Möglichkeit, zu lernen, dass deine Anwesenheit keine Gefahr für sie darstellt.
Auch solltest du deine Katze nicht bedrängen. Lass ihr Zeit. Und gib ihr die Chance, sich in ihrer Geschwindigkeit zu entwickeln und dann auf dich zuzukommen, wenn sie soweit ist.
Pheromone zur Unterstützung?
Es gibt Verdampfer, die auf den ersten Blick wie ein Duftstecker aussehen, den man in eine Steckdose steckt. Statt Parfum befinden sich im Flacon jedoch Pheromone. Sie sollen eine beruhigende, entspannende und harmonisierende Wirkung auf Katzen haben und ihnen so in verschiedenen Situationen helfen, wie z. B. bei Stress, Angst oder Streit mit anderen kätzischen Mitbewohnern.
Während ich selbst bei meinen Katzen keine nennenswerte Beeinflussung feststellen konnte, kenne ich durchaus Menschen, die absolut begeistert davon sind und auf die Wirkung schwören.
Am besten findest du selbst heraus, wie deine Katze darauf reagiert und ob es für euch hilfreich ist.
Blinzeln, nicht starren
Da Katzen grundsätzlich neugierige Wesen sind, wird auch eine ängstliche Katze irgendwann ihr Versteck verlassen oder wenigstens mal neugierig rausgucken (so wie Conley aus dem Kachelofen). Jetzt hast du die große Chance zur Verständigung!
Auch wenn du keine Tierkommunikation beherrschst, kannst du dich mit deiner Katze austauschen. Ganz klassisch geht das über den Blickkontakt. Dazu muss man wissen, dass ein unverwandtes in die Augen schauen von den Katzen nicht nur als unhöflich sondern sogar als Akt der Aggression angesehen wird. Deshalb sollte der Mensch den Blickkontakt immer wieder durch höfliches Beiseitesehen unterbrechen. Oder langsam die Augen schließen und wieder öffnen. In der Körpersprache der Katze signalisiert dieses Blinzeln Vertrauen und Zuneigung.
Selbst Conley erwiderte mein Blinzeln von Anfang an mit einem langsamen Augenzwinkern.
Angst vor Händen – ein bedingter Reflex?
Sehr häufig berichten Adoptanten davon, dass ihre Katzen vor allem Angst vor Händen haben.
Woher kommt das? Zunächst ein Blick auf die Theorie.
Die Sinnesorgane nehmen einen körperlichen Reiz durch sehen, hören, schmecken, fühlen oder riechen wahr, der von den Nerven ans Gehirn weitergeleitet wird. In unserem Fall ist es ein visueller Reiz: Die Katze sieht eine Hand auf sich zukommen.
Im Hirn werden die Reize aufgrund früherer Erfahrungen bewertet. Frühere Erfahrungen mit Händen waren: Ich wurde gepackt, geschlagen, gegen meinen Willen festgehalten, mir wurden Schmerzen zugefügt, ich war hilflos und ohnmächtig… Das Gehirn stuft die Erfahrung mit Händen also als gefährlich, vielleicht sogar lebensbedrohlich ein und leitet diese Meldung weiter an das limbische System. Dort entsteht nun das Gefühl der Angst. Teile des limbischen Systems sorgen dann dafür, dass Adrenalin, Noradrenalin, Cortisol und Cortison ausgeschüttet werden. Es kommt zu den gleichen körperlichen Reaktionen wie bei Stress: beschleunigter Herzschlag, erhöhter Blutdruck, angespannte Muskeln usw.
Diese Reaktionen sind unwillkürlich. Man kann sie nicht bewusst steuern. Sie laufen im Körper ab, ohne dass man sie willentlich beeinflussen kann.
Weil Angst aber kein schönes Gefühl ist, das die Katze genießt, möchte sie dieses Gefühl am liebsten vermeiden und reagiert darauf, indem sie sich der angstauslösenden Situation, also der Hand, entzieht. Das wiederum hat zur Folge, dass sie keine guten Erfahrungen mit Händen machen kann und die Angst davor bestehen bleibt.
Bei Conley hatte ich, auch aufgrund energetischer Arbeit und Tierkommunikation mit ihm, den Eindruck, dass seine Seele etwas anderes möchte als sein Körper. Ganz konkret: seine Seele sehnte sich nach körperlicher Nähe und Streicheleinheiten, während sein Körper auf jede Annäherung unwillkürlich mit Angst und Rückzug reagierte.
Könnte es also sein, dass seine Reaktion auf eine sich nähernde Hand ein bedingter Reflex war?
Ganz grundsätzlich versteht man unter Reflex die unwillkürliche, stets gleiche Reaktion eines Lebewesens auf einen bestimmten Reiz, z.B. Lidschlussreflex, Patellasehnenreflex, Schluckreflex.
Hier wollen wir uns den Speichelflussreflex näher ansehen. Er setzt ein, wenn man leckere Speisen riecht. Nicht umsonst gibt es den Ausspruch: Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Iwan Pawlow (1849 bis 1936), ein russischer Mediziner und Physiologe, führte ein Experiment zum bedingten Reflex durch, das unter der Bezeichnung „pawlowscher Hund“ weltbekannt ist.
Dennoch möchte ich hier zur Erinnerung eine kurze Zusammenfassung des Experiments beschreiben.
Beim Hund setzt der Speichelfluss ein, wenn er sein Futter riecht. In seinem Experiment klingelte Pawlow über einen bestimmten Zeitraum bei jeder Fütterung gleichzeitig ein Glöckchen. Nach einer gewissen Zeit stellte er fest, dass der Speichelfluss beim Hund auch dann einsetzte, wenn er nur das Glöckchen klingelte, jedoch kein Futter brachte. Damit konnte er den Reflex allein durch das Glöckchen auslösen, unabhängig vom ursprünglichen Auslöser, dem Geruch des Futters.
Im Falle der Hand wird also allein ihr Anblick zum Auslöser einer unwillkürlichen körperlichen Reaktion, der Angst, ohne dass sie der Katze etwas Schlimmes zufügt.
Liebe geht durch den Magen
Die gute Nachricht ist: So eine Konditionierung ist nicht in Stein gemeißelt. Sie kann verändert werden, indem man eben andere Verknüpfungen herstellt.
Die Hand ist zunächst etwas Neutrales. Sie löst nur deshalb Angst aus, weil die Katze gelernt hat, dass der Anblick einer Hand unmittelbar mit Schmerz oder Gewalt verbunden ist. Man muss also die Hand mit etwas Positivem verknüpfen. Was von Tieren so gut wie immer positiv bewertet wird, ist Futter.
In Conleys Fall achtete ich also darauf, dass er immer zusah, wenn ich Futter in sein Schälchen gab oder Leckerlis für ihn auf den Boden legte. Er durfte immer sehen, dass die Hand ihm etwas Gutes bereitete. Dass nur Gutes von ihr ausging, nur Gutes geschah, wenn er sie sah.
Auch hier wieder: Geduld, keine Erwartungen, Liebe.
Zwei Schritte vorwärts, einer zurück – wenn Katzen vor ihrer eigenen Courage erschrecken
Da ist er mal über seinen Schatten gesprungen, der Conley, und hat sich streicheln lassen. Wenn ich nun dachte, Conley würde sich fortan immer streicheln lassen, so hatte ich mich geirrt. Conley hatte sich zwar einen Riesenschritt vorwärts getraut, erschrak aber dann über seine eigene Courage und lief in den folgenden Tagen bei jeder Annäherung davon.
Die Katzen brauchen eine Weile, um diesen Entwicklungsschritt zu verarbeiten. Wie bei uns Menschen auch erfordern Entwicklungsprozesse Zeit. Auch wir schreiten nicht unaufhörlich voran. Auch wir brauchen, besonders nach sehr einschneidenden Erfahrungen, eine kleine Auszeit, in der sich das Neue setzen und festigen darf, bevor es weitergeht. Und auch wir erleben Rückschläge. Es geht nur selten geradlinig bergauf.
Mehr-Katzen-Haushalt
Eine gängige Meinung, mit der auch ich aufgewachsen bin, ist, dass Katzen Einzelgänger sind, die sich ihr Zuhause nicht mit Artgenossen teilen wollen. Das ist so jedoch nicht richtig.
Was stimmt ist, dass Katzen alleine jagen (im Gegensatz zu einem Wolfsrudel z.B.). Dies erscheint logisch und sinnvoll, wenn man die Beutetiere einer Katze betrachtet. Eine Maus ist selten groß genug, um zwei Katzen satt zu machen.
Natürlich werden, genau wie bei uns Menschen, auch bei unseren Stubentigern die zwischenkätzischen Beziehungen mal von mehr, mal von weniger Sympathie zueinander geprägt.
Und es gibt immer mal wieder den Einzelprinzen, die Einzelprinzessin, die ihr Zuhause und ihren Menschen ganz alleine für sich haben möchte.
Davon abgesehen sind die meisten Katzen aber sehr soziale Tiere. Sie genießen die Gegenwart und oftmals auch die körperliche Nähe ihrer Artgenossen, spielen und kuscheln miteinander. Wenn man darauf achtet, dass jede Katze stressfreien Zugang zu Futter und Toilette hat, läuft das Zusammenleben meist harmonisch.
Viele Katzen aus dem Tierschutz werden deshalb nicht in Einzelhaltung vermittelt.
Wenn eine Katze als ängstlich beschrieben wird, meint das immer die Angst vor Menschen, nicht vor anderen Katzen.
Im Gegenteil: Artgenossen geben einer ängstlichen Katze im neuen Zuhause eine gewisse Sicherheit. Sie haben eine Vorbildfunktion. Der traumatisierte Familienzuwachs beobachtet die Alteingesessenen ganz genau und lernt von ihnen.
Die anderen Katzen sausen nicht unter den Schrank, wenn ein Mensch den Raum betritt? Vielleicht kann ich ja auch mal abwarten, denn die anderen müssten es ja wissen, wenn der Mensch gefährlich wäre.
Die anderen Katzen schlafen entspannt auf dem Sofa? Vielleicht kann ich das auch und muss mich nicht unter der Kommode verstecken, um sicher zu sein…
Oh, und die anderen lassen sich sogar anfassen, streicheln, auf den Arm nehmen? Vielleicht bringe ich auch irgendwann den Mut dafür auf…
Bis heute ist Conley in vielen Bereichen Wiggerls Schatten. Er beobachtet, was Wiggerl tut. Er geht dorthin, wo Wiggerl hingeht. Oft sind sie zusammen auf Streifzug durchs Revier. Wiggerl, aber auch die anderen kätzischen Hausgenossen haben Conley dabei geholfen, sich immer wieder einen Schritt nach vorne zu wagen auf dem Weg ins Vertrauen.
Auch mithilfe von Tierkommunikation und Energiearbeit kannst du deine ängstliche Katze unterstützen. Mehr zu diesem Thema findest du demnächst hier.