Die Geschichte von Odin Stachelbert

Tagaktiver Igel braucht Hilfe

Dass unser Garten naturnah ist, ist zu einem Teil einer gewissen Faulheit geschuldet. Zum anderen Teil aber dem Idealismus, allem was kreucht und fleucht Lebensraum zu bieten. Überhaupt sind die Menschen, die in unserem kleinen Weiler wohnen, etwas Besonderes- liebevoll, naturverbunden und umsichtig. Sie lassen ihre Wiesen wachsen bis Kräuter darin blühen, die Getreidefelder sind farbenfroh von Mohn- und Kornblumen durchsetzt und überall gibt es Büsche, Holzhaufen und andere Unterschlupfmöglichkeiten für allerlei Lebewesen. Nachts hört man so manchen Igel rascheln und an Insekten mangelt es nicht. Ein kleines Paradies, unser Ort, in dem die Welt noch in Ordnung ist. So dachte ich. Bis ich am 18. Juni Odin Stachelbert traf.

Alarmzeichen tagaktiver Igel

Am helllichten Tag suchte diese Handvoll Igel auf unserer Terrasse nach Futter. Zu groß, um von diesem Jahr zu sein, aber eigentlich zu klein für einen Igel vom Vorjahr. Zudem war ein Hungernacken zu erkennen – eine Kuhle hinter dem Kopf, die anzeigt, dass er nicht genug zu essen hat. Viel wusste ich ja nicht über die Igel, aber dass Tagaktivität ein höchstes Alarmzeichen ist, das war mir klar.

Unterstützung finden bei der Wildtierhilfe

Ich kontaktierte die nächste Wildtierhilfe, die mich an eine Igel-Pfelgestelle weitervermittelte.

Also pflückte ich Odin Stachelbert von der Terrasse und setzte ihn in einen Karton. Seine Stacheligkeit hielt sich da noch in Grenzen, weil er so leicht war, dass er selbst im eingerollten Zustand nicht piekste. Und wenn man seine Hand unter den weichen, fellbedeckten Igelbauch schiebt, kann man ihn wunderbar hochnehmen.

Der Karton entsprach jedoch so gar nicht Odins Vorstellung von Freiheit. Und so musste er aufgrund seiner Ausbruchsversuche auf das polsternde Kissen verzichten, an dem er hoch in die Freiheit klettern wollte. Er wäre ohnehin nur im Fußraum des Beifahrersitzes gelandet, denn wir waren schon unterwegs zur Pflegestelle.

Hilfe in der Not: die Igelpflegestelle

Dort wurde er gewogen und untersucht. Er wog nur 331g. Die Betreuerin der Pflegestelle wunderte sich, wie er den Winter überlebt hatte. Denn es bestand kein Zweifel, dass er im Sommer oder Herbst des Vorjahres zur Welt gekommen war. Zum Glück hatte er keine Maden. Ich erfuhr, dass Fliegen oft ihre Eier auf kranke Igel ablegen. Was er hatte, waren Zecken und Flöhe, was für Igel nichts Ungewöhnliches ist. Darüber hinaus aber hatte er Lungen- und Darmwürmer. Die Betreuerin, die sich übrigens ehrenamtlich und auf eigene Kosten um mehrere hilfsbedürftige Igel kümmert, erklärte mir, dass Igel dann Parasiten bekommen, wenn sie Schnecken oder Regenwürmer essen. Und das tun sie, wenn es nicht genügend Insekten gibt. In meinem kleinen Paradies, in dem alle so sehr auf die Natur achten, gibt es also nicht genügend Insekten…

Da die Parasiten eine medizinische Behandlung erforderten, die ich nicht leisten konnte, blieb Odin erst mal auf der Pflegestelle. Ich bin zwar gelernte Krankenschwester, aber bei kranken und verletzten Tieren stoße ich an meine Grenzen.

Einen Igel zuhause aufpäppeln

Nach anderthalb Wochen durfte ich ihn mit nach Hause nehmen. Dort zog er in meine Ankleide, jenen Raum, in dem mein Kater Conley aus Minsk seine Quarantäne verbrachte. Odin Stachelbert musste sich jedoch zu seinem größer werdenden Leidwesen innerhalb der Ankleide auf einen Nagetierkäfig als Lebensraum beschränken. Worüber er im Laufe der Zeit immer unglücklicher wurde. Da half auch mein liebevoll aus Karton gebasteltes Schlafhäuschen nicht über den Kummer der Freiheitsberaubung hinweg. Es wurde gnadenlos an den Ecken zerrupft und zerbissen, bis die Wände auseinanderfielen und ich ein neues basteln musste. Eins von mehreren, die alle das gleiche Schicksal erlitten. Vor allem, als er immer größer und kräftiger wurde und die Hormone ihm sagten, es sei Zeit nach der holden Weiblichkeit Ausschau zu halten. Besonders schlimm war es, wenn ich die Balkontür zum Lüften aufmachte. Da schnupperte er wohl den Duft der Freiheit und/oder Weiblichkeit und hing an den Stäben des Käfigs.

Wie pflege ich einen Igel?

Odin liebte Katzennassfutter mit Huhn – ohne Gelee und ohne Soße, damit er keine Bauchschmerzen bekommt. Und Trockenfutter für Kitten.

Meine Aufgabe war es fürderhin, Odin täglich zu wiegen, ihm Medikamente ins Futter zu mischen, ihm einmal täglich Entwurmungsmittel mit der Spritze einzugeben, meist zweimal täglich die Zeitungsunterlage im Käfig zu wechseln – danke an dieser Stelle an alle edlen Spender ausgelesener Tageszeitungen- und ihn alle drei Tage mit Lebermoos und Ballistolöl einzusprühen, damit er keinen Pilz entwickelt. Den Pilz bekam er dennoch. Zur Behandlung desselben musste ich wieder zur Pflegestelle fahren, wo er in Lebermoos gebadet wurde. Dass Odin darüber äußerst unglücklich war, versteht sich von selbst.

Aber es was wirkungsvoll. So schnell der Pilz gekommen war, so schnell war ihm auch der Garaus gemacht.

Igel Odins Traum von Freiheit

Und am 16. Juli, vier Wochen nachdem ich ihn von der Terrasse geklaubt hatte, war der große Abend gekommen: Odin durfte in die langersehnte Freiheit. Mittlerweile wog er 760g und fühlte sich schon sehr stachelig an. Doch eine etwas rührselige Verabschiedung musste er trotzdem über sich ergehen lassen.

Gegen 23 Uhr setzte ich ihn in seinem demolierten Schlafhäuschen in den Garten, direkt gegenüber vom neuerstandenen Igelfutterhäuschen. Es dauerte auch nicht lange, bis er sein Näschen aus der Luke streckte und die frische Luft schnupperte. Schließlich kam er aus seinem Schlafhäuschen herausgewackelt, blickte sich kurz um und verschwand im Gebüsch.

Ein Video davon, wie sich Odin Stachelberts Traum von Freiheit am 16. Juli 2023 erfüllte, könnt ihr euch auf meinem Instagram-Account ansehen. Das Video und Fotos von Odin findet ihr unter den Highlights.

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